Die Akteure (in order of appearence):
Der Autor,
Nemesis, hier der Ich-Erzähler
Der
Marktleiter, ein hilfsbereiter Statist
Kunde #1 ein Mann, so um die vierzig
Kunde #2 ein Mann, Anfang zwanzig
Kunde #3 eine Frau Ende zwanzig
Servicekraft #1 alias "I, Robot"
Servicekraft #2, eine freundliche Statistin
Zur Handlung:
Ich betreibe als Hobby ein Modellbau-Projekt, dass manchmal aussergewöhnliche Bauteile erfordert. In diesem Fall eine grosse Anzahl seeeeehr kleiner Hochleistungs-Neodym-Magnete (1x1x1 mm). Diese Magnete sind nicht "mal eben im Baumarkt" zu bekommen und es gibt von (Online-)Geschäft zu (Online-)Geschäft gewaltige Unterschiede in der Preisgestaltung. Der Onlineshop meines Vertrauens verschickt seine Produkte - weil sehr klein und sehr teuer - ausschliesslich per Einschreiben, damit nichts auf dem Postweg verloren gehen kann.
An den Dialogen ist nichts verändert, gekürzt oder hinzugedichtet. ES IST WÖRTLICH SO PASSIERT.
Prolog: Freitag, 10.11.2006, 16:30 UhrFeierabend, Wochenende. Hallo Hobby, hallo Modellbau. Ich komme zu Hause an, eine blaue Kartonkarte in meinem Briefkasten. Eine Benachrichtigung über ein Einschreiben, das nicht zugestellt werden konnte. Meine Freundin war zwar tagsüber zu Hause, aber was soll's - Hurra, die Magnete sind da!
Das Kleingedruckte (als blauer Stempel) auf der Karte:
Abzuholen Mo - Fr 08:00 bis 18:00 Uhr Sa. 08:00 bis 13:00 Uhr,
heute jedoch nicht, am nächsten Werktag nicht vor 09:00 Uhr.
OK. Also Morgen zwischen 09:00 und 13:00 Uhr.
Bastelwochenende, ich komme!
1. Akt: Samstag, 11.11.2006, 12:24 UhrDa unsere Freunde von der Gelben Post vielerorts ihre Filialen aus Kostengründen schliessen, so auch in meiner Heimatgemeinde, wurde hier eine Servicestation im örtlichen Supermarkt (gelb-blau - und die LIEEEBEN Lebensmittel) eingerichtet. Dort frohen Mutes mit blauer Karte und Personalausweis eingetroffen, stand ich vor einem geschlossenen Rolladen. Daneben ein Din-A4 Zettel mit der Aufschrift:
Neue Öffnungszeiten ab dem 01. Oktober:
Mo - Fr 08:00 - 17:30
Sa 08:00 - 12:00PENG!!! So muss sich ein Kind fühlen, wenn der schöne, bunte Luftballon plötzlich und ohne Vorwarnung platzt. Die hatten es nicht geschafft, innerhalb von sechs Wochen die geänderten Öffnungszeiten an die Zusteller zu übermitteln. - Und ich hätte durchaus vor 12:00 Uhr da sein können. Bastelwochenende adé. Dazu - upps: Nächste Woche bin ich auf Lehrgang. Die bewahren ein Einschreiben nur eine Woche lang auf und ich weiss nicht, wie lange der Lehrgang jeden Tag dauert.
Flugs den Marktleiter (lief mir gerade über den Weg) gefragt ["Oh, da hat wohl ein Zusteller falsch gestempelt! Ist nicht das erste Mal."] und vereinbart, dass das Einschreiben etwas länger aufbewahrt werden kann. Vollmacht zur Abholung durch dritte ging nicht, weil der Zusteller seltsamerweise "eigenhändig" vermerkt hatte. Für eine Warensendung ohne Postident absolut ungewöhnlich (weil unnötig).
[Intermezzo]
Der Samstagnachmittag war von meiner Übellaunigkeit geprägt, der Sonntag schlicht langweilig. Ich gebe zu, ich lasse mich leicht "herunterziehen". Die Modellbaupläne wurden umgestellt.
2. Akt: Montag, 12.11.2006, 08:14 UhrMein Lehrgang beginnt laut Einladung heute erst um 09:00 Uhr. Gott sei Dank, jetzt kann ich wenigstens die Magnete abholen. Im Frischmarkt angekommen, den Schalter erspäht -
geöffnet - und hinter drei anderen Kunden angestellt. Hinter dem Schalter stand eine mir bis dato unbekannte Angestellte. So um die vierzig, schlecht gelaunt, offensichtlich frustriert, hölzern, schroff, abweisend und herablassend (mir gehen die Adjektive aus ...) - "
I, Robot".
Während ich die Vorgänge in der Schlange vor mir beobachtete änderten sich meine Gedanken von "Na sowas." über "Gibt's doch gar nicht." bis hin zu "Das lass' ich mit mir aber nicht machen."
Es geschah [sic!] folgendes:
Kunde #1: "Guten Morgen."
"I, Robot": -
Kunde #1: "Die Briefe möchte ich abgeben." [
hält ein paar Briefe hin]
[
"I, Robot" nickt, nimmt die Briefe und starrt Kunde #2 an]
Kunde #1: "Wiederseh'n." [
und geht]
Kunde #2: "Hallo, ich möchte gern ein Paket ..."
"I, Robot" [
erblickt ein mitgebrachtes Päckchen von Kunde #2]: "
Nicht vor 9 Uhr!"
Kunde #2: "Wie bitte?"
"I, Robot": "
Nicht vor 9 Uhr!!!"
Kunde #2: "Ach so. Na dann ..." [
und schleicht mitsamt Päckchen davon]
Kunde #3 [
mit einem orangenen Kärtchen]: "Guten Tag, ich möchte bitte ein Paket ..."
"I, Robot" [
verdreht die Augen]: "
Nicht vor 9 Uhr!!!"
Kunde #3: "Ich arbeite von halb neun bis 18 Uhr.
"I, Robot": "
Nicht vor 9 Uhr!!!"
Kunde #3: "Wie soll ich es dann bitteschön abholen?"
"I, Robot": "Beauftragen sie jemanden.
Nicht vor 9 Uhr!!!" [wendet sich Nemesis zu]
[
Kunde #3 eilt davon und ist sichtlich wütend]
Nemesis: "Schönen guten Morgen, ich ..." (Ja, ich rede so.)
"I, Robot" [
sieht die blaue Karte und ... erraten]: "
Nicht vor 9 U-hur!!!".
Nemesis: "Es geht um ein Einschreiben, kein Paket."
"I, Robot": "
Nicht - vor - 9 - Uhr!!!"
Nemesis: "Ich arbeite zu dieser Zeit."
"I, Robot": "Beauftragen sie jemanden.
Nicht! Vor! 9! Uhr!!!"
Nemesis: "Da steht "
Ei-gen-hän-dig! Das
geht nicht!"
"I, Robot": "
Nicht vor 9 Uhr!!! Ich mach' jetzt die Postfächer!" [
dreht sich wortlos um und geht]
PENG!!! Das war der zweite Ballon. Meine vorsichtshalber sorgfältig vorher zurechtgelegten Argumente blieben unbenutzt in meinem Halse stecken. Ich stand alleine am Schalter. Im Geschäft und an den Kassen war der Teufel los, ausserdem musste ich zum Lehrgang (Themen von Tag 1: "Kundenorientierte Gesprächsführung;
Wertschätzender Umgang miteinander" - wie passend!) - Daher verzichtete ich auf einen Zwergenaufstand ("I, Robot" war ja sowieso weg).
Im Laufe des Tages kamen während des Seminars immer wieder Bruchstücke des Vorgangs in mir hoch (
Wie Grünkohl, wenn man keinen Schnaps hinterher ... aber ich schweife ab ...)
3. Akt: Montag, 12.11.2006, 17:27 UhrDer Lehrgang war heute Gottseidank schon um 17:00 Uhr beendet (Der Lehrgang war super, aber ich hatte ja noch den
Grünkohl - ääh die
blaue Karte im Hinterkopf). Zum Auto gestürmt und -
bleifuss - zum heimatlichen Frischmarkt. Gerade noch rechtzeitig.
Nemesis: "Ich [
schnauf] möchte bitte ein Einschreiben ..." [
hält die etwas zerknitterte Karte hoch]
Servicekraft #2: "Aber natürlich, haben Sie ihren Ausweis dabei?"
Nemesis: "Ja, habe ich."
Servicekraft #2 [
nimmt die Karten, übergibt Nemesis einen Umschlag und lächelt]: Bitte unterschreiben Sie hier!"
Nemesis [
unterschreibt]: "Danke schön. Sagen Sie mal - wie heisst denn die Kollegin, die hier heute morgen am Schalter war?"
... der Rest ist nicht so wichtig ...
Epilog:Eigentlich wollte ich
a) einen Brief an die Deutsche Post schicken
b) einen Brief an die Lebensmittel-liebende Zentrale schicken
c) einen Brief an den Marktleiter schicken
... aber was soll's. Irgendwann kommt eine Gelegenheit zur Rache (nein, liebe Leser, Keine Gewalt oder Killerspiel-ähnliche Handlungen). Trotzdem bin ich der Meinung, dass "I, Robot" irgendwo ins Lager verbannt werden sollte - keine verderbliche Ware, wegen "
Nicht vor 9 Uhr!". Vielleicht passenderweise zur Leergutannahme (Habe scho wida Serrvizz gezzaigt wie Flasche leer!). Oder der Chip des Telefoncomputers könnte aus ihrem Ohr entfernt werden. Oder das Gehirn eingeschaltet. Aber
KEINE KUNDENKONTAKTE MEHR.
Ist sie vielleicht von der Konkurrenz eingeschleust worden? War sie Ausbilderin bei den Marines? War sie Türsteherin? Ich weiss es nicht. Aber so hatte ich die Fax-vom-Finanzamt-Geschichte innerhalb weniger Minuten statt einiger Jahre.
Ich wünsche Euch eine schöne Adventszeit und Frohe Feiertage!
Nemesis